Im Strafrecht gilt ein Grundsatz, der zu den wichtigsten Schutzmechanismen unserer Rechtsordnung gehört: Keine Strafe ohne Schuld (nulla poena sine culpa). Bestraft werden darf nur, wer für sein Handeln auch wirklich verantwortlich gemacht werden kann. Dieses Schuldprinzip ist verfassungsrechtlich abgesichert und folgt aus der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfGE 95, 96).
Doch die Realität zeigt: Immer wieder werden Menschen verurteilt, die aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung gar nicht schuldfähig waren. Das bedeutet: Sie hätten nicht bestraft werden dürfen und wurden dennoch zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Was bedeutet Schuldunfähigkeit?
Nach § 20 StGB ist schuldunfähig, wer das Unrecht seiner Tat nicht einsehen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Häufig liegt dem eine schwere psychische Erkrankung zugrunde. In diesen Fällen muss ein Freispruch erfolgen – eine Strafe wäre rechtswidrig.
Häufig verkannt – ein unterschätztes Problem
Studien zeigen, dass die Verkennung von Schuldunfähigkeit eine der häufigsten Ursachen für Fehlurteile ist. In der Verbundstudie waren rund 30 % der untersuchten Fehler auf eine unerkannte Schuldunfähigkeit zurückzuführen. Auch die Kriminologische Zentralstelle und Dunkel kamen in ihren Analysen zu ähnlich hohen Anteilen.
Risikofaktor Strafbefehlsverfahren
Besonders häufig bleibt die Schuldunfähigkeit im Strafbefehlsverfahren unentdeckt. Hier entscheidet das Gericht allein auf Aktenbasis – ohne persönlichen Eindruck von der betroffenen Person. Laut Studien basierten rund drei Viertel der erfolgreichen Wiederaufnahmen wegen unerkannter Schuldunfähigkeit auf rechtskräftigen Strafbefehlen. Hinzu kommt, dass psychisch kranke Personen oft nicht in der Lage sind, fristgerecht Einspruch einzulegen.
Versäumnisse im Umgang mit Hinweisen
Doch auch dort, wo ein persönlicher Kontakt stattfand, werden Hinweise auf psychische Erkrankungen mitunter ignoriert. In bekannten Fehlurteilen gab es Anhaltspunkte wie eine gesetzliche Betreuung oder Auffälligkeiten in Akten. Und doch wurde die Frage der Schuldfähigkeit kaum thematisiert. Sachverständigengutachten wurden nur in Ausnahmefällen eingeholt.
Wiederaufnahmegründe
Kommt es wegen unerkannt schuldunfähigen Handelns zu einer Verurteilung, bleibt meist nur die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 5 StPO. Neue Beweismittel wie eine psychiatrische Diagnose, medizinische Unterlagen oder ein nachträgliches Sachverständigengutachten können den Freispruch ermöglichen. Allerdings ist damit nicht immer die Freiheit gesichert: Nach § 63 StGB kann stattdessen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet werden, wenn die Person aufgrund ihres Zustands als gefährlich gilt.
Literatur/Quellen
- BGHSt 2, 194.
- BVerfGE 95, 96.
- Dunkel, Fehlentscheidungen in der Justiz, 2018.
- Kriminologische Zentralstelle, Studie zu Wiederaufnahmeverfahren.
- Verbundstudie zu Fehlurteilen.
- § 20 StGB.
- § 63 StGB.
- § 359 Nr. 5 StPO.