Kriminaltechnische Beweisführung im Strafverfahren – Ausgesuchte Problemfelder - Prof. Dr. Ralf Neuhaus
Die kriminaltechnische Beweisführung gilt als Königsdisziplin im Strafverfahren. Doch wie objektiv ist sie wirklich? Prof. Dr. Ralf Neuhaus schärfte in seiner Fortbildung das Problembewusstsein: Von Mikrospuren bis zur digitalen Forensik
Am 20. Juni 2025 sprach Prof. Dr. Ralf Neuhaus über „Kriminaltechnische Beweisführung im Strafverfahren – Ausgesuchte Problemfelder“. Im Zentrum stand die Notwendigkeit, Gutachten kritisch zu hinterfragen und die Rechte der Verfahrensbeteiligten konsequent einzufordern.
I. Die Methodik: Spuren-Level und Kritische Kontrolle
Der methodische Ansatz für die kriminaltechnische Beweisführung muss das Auffinden, Sichern (lege artis) und Bewerten von Spuren umfassen. Es gilt herauszufinden, wie die Spur entstanden ist, wo sie aufgefunden worden ist und wie sie gesichert worden ist (lege artis). Eine nicht ordnungsgemäße Sicherung kann das belastende und entlastende Spurenbild vernichten oder verfälschen. Die kriminaltechnische Beweisführung sei gerade nicht objektiv.
- Source Level (Identitätsebene): Hier geht es um das Auffinden und Sichern von Spuren (z. B. Blut, Sperma). Hauptproblem ist das Risiko der leichten Verfrachtbarkeit von Mikrospuren. Gefahren bestehen durch das Einschleppen durch Ermittler oder durch chemische Verunreinigung (z. B. Luminol, das genetische Marker zerstören kann). Besondere Beachtung sollte vor allem den nicht gefundenen Sachen geschenkt werden. (BGH NStZ-RR 2002, 39; BGH StraFo 2012, 41 I)
- Activity Level (Herkunftsebene): Hier werden Hypothesen zum konkreten Tatgeschehen entwickelt. Das Activity Level gibt Antworten auf das Source Level, etwa auf die Tatortberechtigung oder auf bewegliche Spurenträger (Trugspur-Problematik). Das Auffinden von DNA am Tatort sagt wenig aus, wenn der Spurenleger tatortberechtigt war. Als Beispiel für Risiken im Rahmen der Herkunftsebene ist der Fall Harry Wörz zu nennen.
- Offence-Level (Beweisebene): Hier stehen verfahrensrechtliche Fragen (z. B. Durchsuchung, Beschlagnahme, Beweisverwertungsverbote) und die Beweiswürdigung im Vordergrund (lesenswert: BGH NStZ 2018, 319).
II. Altersbestimmung und die Rolle der Epigenetik
Zur Feststellung des Alters, etwa bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, wird das 3-Säulen-Modell angewandt:
- 1. Säule: Körperliche Untersuchung (nebst sexuellen Reifezeichen).
- 2. Säule: Radiologische Untersuchung des Handwurzelknochens und des Schlüsselbeins (Schluss der Epiphysenfuge zwischen 18. und 21. Lebensjahr).
- 3. Säule: Radiologische Untersuchung der Gebissentwicklung.
Der BGH vertritt die Ansicht, dass im Zweifel das jüngere Alter anzunehmen ist.
In einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Berlin (70 JS 336 02) wird gefordert, dass in Grenzfällen alle 3 Säulen durchgeführt werden.
Als neues Instrument zur Altersfeststellung soll die Epigenetik dienen. Sie besagt, dass die DNA des Menschen sich im Laufe des Lebens verändert (z. B. Verkürzung der Telomere). Die Methode ist derzeit noch nicht ausgereift. Jedoch werden in NRW bereits bei Zweifelsfällen epigenetische Gutachten eingeholt.
III. Blutspurenmusteranalyse und DNA-Transfer
Die Blutspurenmusteranalyse dient der Überprüfung von Aussagen zum Tatablauf. Sie ist eine wissenschaftlich anerkannte interdisziplinäre Methode, die u. a. Aussagen überprüfen kann.
Es gibt drei Arten von Blutspuren:
- Blutspuren aufgrund passiver Entstehung (Wischspuren, Abrinnspuren, Kontaktspuren). Dabei ist wegen der Vielzahl unbekannter Variablen eine nähere Interpretation der Entstehung nur sehr eingeschränkt möglich.
- Blutspuren in primären (direkte Einwirkung auf das Opfer, je höher der Energieeinsatz, desto kleiner die Spuren) und sekundären (entstehen aus den primären) Spritzfeldern.
- Alle anderen Spuren, wie z. B. Mikrospuren oder Nicht-Spuren.
Leitspurenkonzept: Dieses Konzept überprüft, wo Spuren auftreten müssten bzw. nicht auftreten dürfen/können, und muss das Tatvor- und Tatnachgeschehen berücksichtigen (lesenswert: Wiederaufnahmeverfahren von Franz-Josef Sträter).
Grenzen: Aufgrund der Blutspurenanalyse ist nicht feststellbar, ob der Täter Links- oder Rechtshänder war. Aus der Anzahl der Spritzfelder kann man nicht auf die Anzahl der Verletzungen schließen. Auch die Position des Tatopfers ist bei Krafteinwirkung nicht sicher feststellbar.
Der Beweiswert einer Blutspurenmusteranalyse ist verhältnismäßig groß, Grenzen finden sich jedoch in der Korrektheit der Tatortaufnahme.
IV. DNA-Übertragbarkeit von Spuren & Transferszenarien
Ein vollständiges DNA-Profil von einem Fingerabdruck ist in der Praxis selten.
Die Möglichkeit eines Sekundär- oder Tertiärtransfers ist in der forensischen Wissenschaft vollkommen unstreitig (Goray/can Oorshot, in: Forensic Science International 2013, S. 101). Alle weltweiten Untersuchungen dazu wurden in einem Aufsatz von Foerster et al. in der Rechtsmedizin 2023, S. 53 ff. zusammengefasst.
Wann ist ein Transfer wahrscheinlich?
Ein Sekundär- oder Tertiärtransfer liegt nahe bei:
- Einer Häufung von nichtberechtigten Personen am Tatort.
- Einem Tatgeschehen, das durch starke Interaktion charakterisiert ist, z. B. § 227 StGB.
- Schlechter Handhygiene (schwierig nachzuweisen).
Gegen einen Transfer spricht der Fund an mehreren Asservaten oder stark ausgeprägte Allele der fraglichen Person.
Relevante Faktoren:
- Materialbeschaffenheit und Oberflächentextur.
- Art und Intensität eines Kontaktes.
- Shedderstatus (Eigenschaft, Hautschüppchen zu verlieren).
Beispiel Händeschütteltest: Bei einem "Händeschütteltest" konnten DNA-Spuren am Messergriff gesichert werden, nachdem sich zwei Personen eine Minute die Hände geschüttelt und danach den Griff angefasst hatten. In 20% der Fälle wurde die jeweils falsche Person als (einziger) Spurenleger identifiziert.
Fazit:
Eine DNA-Spur am Tatort stellt zwar regelmäßig ein bedeutsames Indiz dar. Dennoch bedürfen Spurenentstehung und Bewertung einer kritischen Kontrolle, z. B. mittels Alternativhypothesen oder der Frage der Berechtigungen am Tatort. Schwachstellen können nachlässige Tatort- und Laborarbeit sowie mögliche Transferszenarien sein.
IV. Digitale Forensik: Zugriff und Datenbewertung
Grundsätzlich gilt es zwischen zwei Formen von digitalen Spuren zu unterscheiden: Jene, die direkt mit physischen Datenträgern verbunden sind (z. B. Hardware, USB-Stick, Auto, Warenwirtschaftssysteme) und jene, die reine virtuelle digitale Spuren in Clouds und Arbeitsspeichern sind.
Bei der Bewertung der gesicherten Daten müssen vier Kriterien geprüft werden:
- Integrität: Ist die digitale Spur unverändert? Dies wird über Hash-Werte (Zusammenhang zwischen Spureninformation und Spurenträger) festgestellt.
- Authentizität: Ist die gesicherte Spur die tatsächlich forensisch zu bewertende Spur? Ist der Hash-Wert digital signiert? Da Chatverläufe oder schlichte Textdateien leicht, z. B. durch frei verfügbare Software, gefälscht werden können, muss die Authentizität in Frage gestellt werden.
- Dokumentation: Die Beweiskette (Chain of Custody) muss über den örtlichen und zeitlichen Verlauf sowie den Zustand der digitalen Spur festgehalten werden. Die Kriminalpolizei entscheidet, was Aktenbestandteil wird und was in die Spurenakten gelangt.
- Nachvollziehbarkeit: Diese erfordert eine gute Dokumentation und bedeutet, das Vorgehen bei der Beweiserlangung und der Beweissicherung als auch den Befund einer Plausibilitätsprüfung unterziehen zu können.
(Im diesem Zusammenhang zu Beweisverwertungsverboten: EuGH v. 20.09.2022 3 C 339/20 und 3 C 397/20; Strate, HRRS, Heft 7/2024, S. 226.)
Wir danken Herrn Prof. Neuhaus für das sehr gelungene und lehrreiche Seminar und hoffen ihn in Zukunft wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Abschließend möchten wir auf ein lesenswertes Buch verweisen dessen Mitautor er ist: Kriminaltechnik und Beweisführung im Strafverfahren von Prof. Ralf Neuhaus, Dr. Heiko Artkämper und Grit Weise.