Wiederaufnahme des Verfahrens – Was ist das eigentlich?
Begriffserklärung und Abgrenzung der Rechtsbehelfe gegen strafgerichtliche Urteile
Je nach Verfahrenslage gibt es verschiedene Möglichkeiten Fehlurteile anzufechten. Wenn wir von der Arbeit des Innocence Project Deutschland erzählen, merken wir jedoch oft, dass deren Unterschiede vielen Personen nicht geläufig sind. Um hier Klarheit zu schaffen, stellt dieser Beitrag die zentralen Rechtsbehelfe vor, mit denen strafgerichtliche Urteile angefochten werden können und grenzt diese voneinander ab. Diese sind neben der Wiederaufnahme des Verfahrens die Berufung und Revision sowie die Verfassungsbeschwerde.
Überblick
Im Folgenden werden die Rechtsbehelfe im Einzelnen erläutert. Gemeinsam bilden sie das folgende System: Vor Eintritt der Rechtskraft kann das Urteil mit der Berufung und der Revision angegriffen werden. Die Berufung stellt eine zweite Tatsacheninstanz dar. Die Revision dient hingen lediglich der Überprüfung von Rechtsfehlern. Nach Eintritt der Rechtskraft verbleiben nur die Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde und Wiederaufnahme des Verfahrens. Mit der Verfassungsbeschwerde können nur Grundrechtsverletzungen geltend gemacht werden. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglicht es, unter strengen Voraussetzungen, das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren erneut aufzurollen.
Erster Unterschied: Zeitpunkt
Der erste wesentliche Unterschied zwischen den genannten Rechtsbehelfen ist der Zeitpunkt, in dem sie eingelegt werden können. Die Berufung und die Revision können nur eingelegt werden, bevor das Urteil rechtskräftig und damit vollstreckbar geworden ist. Man bezeichnet sie als ordentliche Rechtsbehelfe. Die Verfassungsbeschwerde und die Wiederaufnahme des Verfahrens kommen hingen erst in Betracht, wenn das Urteil rechtskräftig und damit vollstreckbar geworden ist. Sie gehören zu der Gruppe der außerordentlichen Rechtsbehelfe (Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 10. Aufl. 2021, § 34 Rn. 1).
Zweiter Unterschied: Prüfungsmaßstab
Der zweite entscheidende Unterschied zwischen den erwähnten Rechtsbehelfen besteht, darin, in welchem Umfang das angefochtene Urteil damit überprüft wird.
Berufung
In der Berufung wird geprüft, ob das Gericht die gesetzlichen Vorschriften richtig angewendet hat und ob der im Urteil festgestellte Sachverhalt zutreffend ist (Roxin/Schünemann a.a.O., § 54 Rn. 1). Dazu findet vor dem Berufungsgericht eine neue Hauptverhandlung statt, die im Wesentlichen wie die erste abläuft (Roxin/Schünemann a.a.O., § 54 Rn. 14; zu den Abweichungen siehe §§ 324 f. StPO). Hierbei können auch neue Beweismittel berücksichtigt werden (Roxin/Schünemann a.a.O., § 54 Rn. 17). Das Berufungsgericht entscheidet eigenständig, ob die:der Angeklagte schuldig ist. Kommt es zu dem Ergebnis, dass das Urteil falsch ist, hebt es dieses auf und ersetzt es durch ein neues (§ 328 Abs. 1 StPO).
Revision
Anders als mit der Berufung, können mit der Revision lediglich Rechtsfehler geltend gemacht werden (§ 337 Abs. 1 StPO). Daher wird in der Revision der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt als feststehend behandelt. Mit der Sachrüge macht man die fehlerhafte Anwendung des materiellen Rechts, also der Voraussetzungen der Strafbarkeit und deren Rechtsfolgen (Weber/Werner Rechtswörterbuch, 34. Edition 2025, „Strafrecht“ 1. a)) geltend. Die Verfahrensrüge richtet sich wiederum gegen Verstöße gegen Verfahrensvorschriften (Roxin/Schünemann a.a.O., § 55 Rn. 11). Die Revision setzt voraus, dass das Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), also ohne die Gesetzesverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre (BGHSt 22, 278 (280)). Erachtet das Revisionsgericht das Urteil für rechtsfehlerhaft, so hebt es dieses und die von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen auf (§ 353 StPO) und verweist die Sache an ein anderes Gericht zurück (§ 354 Abs. 2 StPO).
Verfassungsbeschwerde
Im Unterschied zu den übrigen hier dargestellten Rechtsbehelfen entscheidet über die Verfassungsbeschwerde nicht ein Strafgericht, sondern das Bundesverfassungsgericht (Art. 94 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG). Da die Anwendung des einfachen Rechts allein Aufgabe der Fachgerichte ist, ist die Verfassungsbeschwerde nicht dazu bestimmt, fachgerichtliche Entscheidungen inhaltlich zu überprüfen. Daher ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein rechtskräftiges Strafurteil nur dann begründet, wenn die:der Beschwerdeführer:in darlegt, dass die ordentlichen Gerichte spezifisches Verfassungsrecht verletzt haben (BVerfGE 1, 418 (420)). Wenn die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist, hebt das Bundesverfassungsgericht das Urteil auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung an ein Strafgericht zurück (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
Wiederaufnahme des Verfahrens
Die Wiederaufnahme des Verfahrens bedeutet, dass nach Eintritt der Rechtskraft und damit der Vollstreckbarkeit des Urteils eine völlig neue Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht (§§ 367 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 140a Abs. 1 S. 1 GVG) stattfindet. In dieser Hauptverhandlung können neue Beweise berücksichtigt werden. Am Ende der Hauptverhandlung trifft das Gericht eine Entscheidung, die die:den Antragsteller:in nicht schlechter stellen darf als das ursprüngliche Urteil (§ 373 StPO). Es kann die:den Antragsteller:in daher freisprechen, zu derselben oder einer geringeren Strafe verurteilen oder das Verfahren einstellen.
Damit es zu einer erneuten Hauptverhandlung kommt, ist ein Antrag erforderlich. Diesen kann die:der Verurteilte selbst, aber auch die Staatsanwaltschaft stellen (§ 296 i.V.m. § 365 StPO). Dieser muss geltend machen, aus welchem Grund die Wiederaufnahme des Verfahrens begehrt wird (§ 366 Abs. 1 StPO). Mit der Wiederaufnahme kann nämlich nicht jeder Fehler angegriffen werden. Stattdessen kommt sie nur in Betracht, wenn mindestens einer der sogenannten Wiederaufnahmegründe aus § 359 StPO bzw. § 79 Abs. 1 BVerfGG vorliegt. Hierzu gehören z.B. eine strafbare falsche belastende Zeug:innenussage (§ 359 Nr. 2 StPO) oder das Vorliegen neuer entlastender Tatsachen oder Beweise (§ 359 Nr. 5 StPO). Weil das Gesetz nur eine geringe Zahl an Wiederaufnahmegründen vorsieht, ist die Wiederaufnahme eines Verfahrens nur in wenigen Fällen möglich.
Von der hier dargestellten Wiederaufnahme zugunsten der:des Verurteilten ist die Wiederaufnahme zuungunsten der:des Verurteilten zu unterschieden. Diese kann nur von der Staatsanwaltschaft beantragt werden (§ 296 i.V.m. § 365 StPO) und erfordert, dass einer der Wiederaufnahmegründe aus § 362 StPO vorliegt. Zu diesen gehört z.B. eine strafbare falsche entlastende Zeug:innenaussage oder ein glaubwürdiges Geständnis der:des Freigesprochenen.
Bedeutung der Wiederaufnahme des Verfahrens
Die Darstellung zeigt, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens zwar nur einen von mehreren Rechtsbehelfen darstellt. Zugleich nimmt sie aber eine besondere Stellung ein, nur sie die Möglichkeit eröffnet, ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren noch einmal aufzurollen. Damit ist sie ein zentrales Instrument im Ringen um Einzelfallgerechtigkeit.