Die Wiederaufnahmegründe
Ein Überblick über § 359 StPO und § 79 Abs. 1 BVerfGG
Urteilte können aus zahlreichen Gründen fehlerhaft sein. Doch nicht jeder Fehler begründet auch die Wiederaufnahme des Verfahrens. Es existiert nur eine Hand voll Gründe, die eine Wiederaufnahme ermöglichen. Dieser Beitrag stellt diese sogenannten Wiederaufnahmegründe zugunsten der:des Verurteilten vor.
Wiederaufnahmegründe nach § 359 StPO
Unechte oder verfälschte Urkunde (Nr. 1)
Ein Wiederaufnahmegrund liegt stets vor, wenn eine Urkunde, die als Beweismittel zuungunsten der:des Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, unecht oder verfälscht war. Nach der juristischen Definition ist eine Urkunde in diesem Zusammenhang jede verkörperte menschliche Gedankenerklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und ihre:n Aussteller:in erkennen lässt (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, Bd. 3, 2. Auflage 2024, § 359 Rn. 17). Gemeint sind damit z.B. Schriftstücke wie Verträge oder Rechnung aber auch Kfz-Kennzeichen. Unecht ist eine Urkunde, wenn sie von einer anderen als der als Aussteller:in angegebenen Person stammt (Rengier, Strafrecht BT II, 26. Auflage 2025, § 33 Rn. 6). Verfälscht ist sie, wenn ihr Inhalt nachträglich geändert wird und der Eindruck erweckt wird, die Erklärung sei von der:dem Aussteller:in von Anfang an in dieser Form abgegeben worden (OLG Köln, NJW 1983, 769). Die Wiederaufnahme setzt voraus, dass nicht auszuschließen ist, dass die Urkunde das Urteil zum Nachteil der:des Angeklagten beeinflusst hat (Schmitt/Köhler, Strafprozessordnung, 68. Auflage 2025, § 359 Rn. 8).
Strafbare falsche Zeug:innenaussage oder strafbares falsches Gutachten (Nr. 2 StPO)
Ein Wiederaufnahmegrund liegt ferner vor, wenn ein:e Zeug:in vorsätzlich falsch ausgesagt bzw. ein:e Sachverständige:r ihr:sein Gutachten vorsätzlich falsch erstattet hat. Wenn die Beweisperson vereidigt wurde, genügt bereits eine fahrlässige falsche Aussage bzw. Gutachtenerstattung. Es müssen zudem alle weiteren Voraussetzungen der einschlägigen Straftatbestände (wegen falscher uneidlicher Aussage (§ 153 StGB), Meineids (§ 154 StGB) oder fahrlässigen Falscheids (§ 161 Abs. 1 StGB) vorliegen (KG, Beschl. v. 30.7.1996 – 1 AR 415/96). Die Beweisperson muss wegen der falschen Aussage rechtskräftig verurteilt sein (§ 364 StPO). Anders als beim Vorbringen einer unechten oder verfälschten Urkunde genügt es für den Wiederaufnahmegrund nach § 359 Nr. 2 StPO, dass die falsche Zeug:innenaussage bzw. Gutachtenerstattung außerhalb der Hauptverhandlung, also z.B. im Ermittlungsverfahren, vor einer:einem Richter:in erfolgt ist (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 24). Auch bei der Wiederaufnahme wegen falschem Zeugnis bzw. Gutachten darf nicht auszuschließen sein, dass dieses das Urteil zum Nachteil der:des Angeklagten beeinflusst hat (BGHSt 31, 365 (371)).
Strafbare Amtspflichtverletzung von Richter:innen (Nr. 3 StPO)
Ein weiterer Wideraufnahmegrund liegt vor, wenn sich ein:e Richter:in oder Schöff:in, die:der beim Urteil mitgewirkt hat, einer strafbaren Amtspflichtverletzung schuldig gemacht hat. Als eine solche strafbare Amtspflichtverletzung kommen insbesondere folgende Delikte in Betracht: Nötigung (§ 240 StGB), Urkundenfälschung (§ 267 StGB), Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit (§§ 331, 332 StGB), Rechtsbeugung (§ 339 StGB) oder Aussageerpressung (§ 343 StGB) (Schmitt a.a.O, § 359 Rn. 14). Die:der Richter:in muss wegen dieser Tat rechtskräftig verurteilt sein (§ 364 StPO). Ferner muss die Tat einen Bezug zum Gegenstand des Strafverfahrens aufweisen und nicht bloß bei Gelegenheit des Strafverfahrens verübt worden sein (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 30). Die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 3 StPO ist ausgeschlossen, wenn die:der Verurteilte die Amtspflichtverletzung veranlasst hat.
Aufgehobenes zivilgerichtliches Urteil (Nr. 4 StPO)
Nach dem Gesetzeswortlaut begründet nur die Aufhebung eines zivilgerichtlichen Urteils, welches Grundlage für das strafgerichtliche Urteil gewesen ist, die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 4 StPO. Diese enge Formulierung ist jedoch historisch bedingt. Nach heutigem Verständnis sind daher neben zivilgerichtlichen auch Urteile der Arbeits-, Sozial-, Finanz- und Verwaltungsgerichte erfasst. Lediglich aufgehobene Strafurteile fallen nicht hierunter (KK-StPO/Tieman, 9. Auflage 2023, § 359 Rn. 15). Das aufgehobene Urteil war Grundlage des strafgerichtlichen Urteils, wenn es sich bei diesem um ein bindendes Gestaltungsurteil handelte (vgl. § 262 StPO). Ein Beispiel hierfür ist die familiengerichtliche Feststellung der Vaterschaft. Wird das Vaterschaftsurteil aufgehoben, das Grundlage der Verurteilung wegen Unterhaltspflichtverletzung gewesen ist, stellt dies einen Wiederaufnahmegrund i.S.v. § 359 Nr. 4 StPO dar. Zum anderen gründete das strafgerichtliche Urteil auf dem Urteil, wenn dieses als Urkundenbeweis (§ 249 StPO) in den Prozess eingeführt worden ist (Schmitt a.a.O., StPO, § 359 Rn. 19). Da strafrechtliche Entscheidungen in aller Regel nur rechtskräftige Urteile gründen, wird eine Aufhebung des außerstrafrechtlichen Urteils nur im Wiederaufnahmeverfahren vor der entsprechenden Fachgerichtsbarkeit (siehe §§ 579 ff. ZPO) erfolgen (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 34).
Neue geeignete Tatsachen oder Beweismittel (Nr. 5)
Der in der Praxis bedeutendste Wiederaufnahmegrund ist das Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, die geeignet sind, eine für die:den Verurteilten günstigere Entscheidung zu begründen. Eine Tatsache ist ein Umstand, der wirklich besteht. Um eine Tatsache handelt es sich z.B. bei der Kenntnis der Tatumstände beim Vorsatzdelikt oder Indizien wie dem Blut des Opfers auf der Kleidung eines Dritten und nicht der:des Verurteilten. Beweismittel sind Zeug:innen, Sachverständige, Urkunden und Augenscheinsobjekte (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 38 ff.). Tatsachen oder Beweismittel sind neu, wenn das Gericht diese bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat, unabhängig davon, ob es die Möglichkeit dazu gehabt hätte (BVerfG, NJW 2007, 207 (208)). Dabei muss aber nur entweder eine Tatsache oder ein Beweismittel neu sein. Die:der Antragstelleri:in kann also eine neue Tatsache auf ein altes Beweismittel stützen oder sich des neuen Beweismittels bedienen, um eine bereits behauptete Tatsache zu belegen (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 44). Neben ihrer Neuheit ist erforderlich, dass die Tatsachen oder Beweismittel geeignet sind, die Freisprechung der:des Angeklagten, eine geringere Bestrafung aufgrund eines milderen Strafgesetzes oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen.
Vom EGMR festgestellte Verletzung der EMRK (Nr. 6)
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der von 46 Staaten unterzeichnet worden ist und diese zur Gewährleistung grundlegender Menschenrechte verpflichtet (Herdegen, Europarecht, 25. Auflage 2025, § 3 Rn. 1). Mit der Individualbeschwerde kann sich jede:r an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wenden und die Verletzung eines Konventionsrechts durch einen Vertragsstaats rügen (Art. 34 EMRK). Stellt der EGMR daraufhin die Verletzung der EMRK fest, so begründet dies einen Wiederaufnahmegrund, sofern nicht auszuschließen ist, dass die Entscheidung ohne die Koventionsverletzung für die:den Verurteilten günstiger ausgefallen wäre (MüKo-StPO/Engländer/Zimmermann, § 359 Rn. 68). Allerdings steht die Wiederaufnahme nur der Person zu, die die Individualbeschwerde eingelegt hat (BVerfG, NStZ-RR 2019, 123 (124)).
§ 79 Abs. 1 BVerfGG
Außerhalb der Strafprozessordnung ist ein weiterer Wiederaufnahmegrund zugunsten der:des Verurteilten geregelt. Danach ist die Wiederaufnahme möglich, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz, auf dem das Strafurteil beruhte oder aber eine Auslegung des Gesetzes durch das Strafgericht für verfassungswidrig erklärt hat.
Zusammenfassung
Insgesamt gibt es sieben Wiederaufnahmegründe zugunsten der:des Verurteilten. Damit sind die Möglichkeiten für eine Wiederaufnahme streng limitiert. Diese Regelung deckt nicht einmal die häufigsten Fehlerquellen im Strafprozess ab.