„Wiederaufnahmeverfahren in der Praxis“ – Ein Abend über Fehlerkultur und Rechtsstaatlichkeit
Wie kann ein Rechtsstaat Fehlurteile erkennen und korrigieren? Dieser Leitfrage widmete sich am 28. Oktober die Podiumsdiskussion „Wiederaufnahmeverfahren in der Praxis“. Die Veranstaltung verband internationale Perspektiven mit Einblicken aus Wissenschaft, Justiz und Verteidigung und zeigte vor allem eines: Die Wiederaufnahme ist ein Bereich, in dem strenge juristische Vorgaben auf schwierige praktische Bedingungen treffen.
Den Auftakt machte Yosha Gunasekera, leitende Rechtsanwältin beim Innocence Project New York. Ihr Vortrag lieferte Impulse, die auch deutsche Debatte prägen sollten.
Ein Blick auf 100.000 mögliche Fehlurteile
In den USA, erklärte Gunasekera, geht man inzwischen davon aus, dass rund 5 Prozent der Inhaftierten unschuldig sind. Das bedeutet, dass etwa 100.000 Menschen zu Unrecht inhaftiert sind. Das Innocence Project hat nicht nur zahlreiche Fehlurteile korrigiert, sondern über 250 Reformen im Strafverfahren mit angestoßen und ein globales Netzwerk aus mehr als 70 Organisationen auf den Weg gebracht.
Besonderes Augenmerk legte Gunasekera auf zwei Aspekte, die für die deutsche Diskussion besonders lehrreich sind. Der erste betrifft die Aufbewahrung von Asservaten, insbesondere biologischer Spuren. Gunasekera erläuterte, dass Beweise in ihrem Arbeitsumfeld inzwischen verlässlicher gesichert werden. Dadurch bleiben Beweise selbst nach Jahrzehnten untersuchbar. Wo Asservate fehlen oder beschädigt sind, werde eine Wiederaufnahme dagegen nahezu unmöglich. Verbindliche Standards seien daher ein entscheidender Baustein effektiver Fehlerkorrektur.
Der zweite zentrale Punkt ihres Vortrags war die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, insbesondere den sogenannten Conviction Integrity Units. Da das Innocence Project selbst keine Zwangsbefugnisse (Subpoenas) besitzt, kann es Unterlagen nicht erzwingen und auf viele Informationen nur zugreifen, wenn Behörden bereit sind, diese offenzulegen. Gunasekera betonte, dass der Informationsfluss und gemeinsame Nachermittlungen entscheidend seien – nicht zuletzt, weil sich relevante Hinweise oft nur in alten Ermittlungsakten oder internen Dateien der Staatsanwaltschaft befinden. Erst die Verbindung aus gesicherten Asservaten und behördlicher Kooperation ermögliche in vielen Fällen, die ursprünglichen Entscheidungen kritisch zu überprüfen und mögliche Fehlurteile sichtbar zu machen.
Die Diskussion im Überblick
Während der Vortrag den Rahmen des Abends setzte, war es die anschließende Podiumsdiskussion, die dessen inhaltlichen Kern bildete. Auf dem Podium trafen fünf Fachleute zusammen, die das Wiederaufnahmeverfahren aus sehr unterschiedlichen beruflichen Perspektiven kennen:
- Prof. Dr. Johannes Kaspar, Universität Augsburg,
- RAin Regina Rick, Verteidigerin in mehreren spektakulären Wiederaufnahmefällen,
- Prof. Dr. Tobias Kulhanek, Leibniz Universität Hannover,
- Staatsanwalt Dr. Simon Pschorr, Sprecher der Fachgruppe Strafrecht der NRV, sowie
- RA Prof. Dr. Stefan König, erster Vorsitzender von Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V.
Es entwickelte sich ein offenes Gespräch über Fehlerkultur, Hürden und die Spannungen, die das System der Wiederaufnahme durchziehen.
Fehlurteile: ein blinder Fleck der Statistik
Zu Beginn erläuterte Johannes Kaspar, was im engeren Sinne unter einem Fehlurteil zu verstehen ist. Die Begrifflichkeiten seien vielfältig, doch im Kern bedeute ein Fehlurteil, dass jemand wegen einer Tat verurteilt wurde, die er oder sie tatsächlich nicht begangen hat.
Kaspar machte deutlich, wie wenig empirisches Wissen es in Deutschland über Fehlurteile gibt. Wiederaufnahmeanträge würden nur unzuverlässig statistisch erfasst. Vor allem aber werde nicht dokumentiert, wie diese Verfahren ausgehen, also ob sie tatsächlich ein Fehlurteil korrigieren.
Wiederaufnahme als Qualitätsmerkmal
Tobias Kulhanek betonte, dass Wiederaufnahmeverfahren kein Fremdkörper im Strafrecht seien. Ein funktionierendes Rechtssystem müsse Fehler nicht nur hinnehmen, sondern bereit sein, sie aktiv zu korrigieren. Glaubwürdige Wiederaufnahmeverfahren stärkten das Vertrauen in die Strafjustiz.
Die harte Realität der Verteidigung
Regina Rick brachte die praktische Perspektive ein. Anders als Kaspar betonte sie, dass Fehlurteile durchaus häufig auf gravierende Fehler zurückzuführen seien: unzureichende Ermittlungen, voreilige Hypothesenfestlegung oder methodisch zweifelhafte Gutachten.
Zudem schilderte sie die enormen Schwierigkeiten, im Wiederaufnahmeverfahren neue Tatsachen oder Beweismittel vorzulegen, die den engen gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Wissenschaftlich hochwertige Gutachten seien teuer – und für viele Betroffene nach der Verurteilung kaum finanzierbar.
Anhand der Fälle Rudolf Rupp und Manfred Genditzki zeigte sie ferner, wie schwer sich Gerichte tun können, ihre eigenen Entscheidungen infrage zu stellen, selbst wenn deutliche Zweifel bestehen. Der Weg zur Fehlerkorrektur sei oft lang und zäh.
Regina Rick betonte zudem, dass ein Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren nach ihrer festen Überzeugung nur möglich ist, wenn die betroffene Person tatsächlich unschuldig ist. Andernfalls lasse sich die erforderliche Überzeugung von der Unschuld kaum herstellen.
Die Bedeutung von Ressourcen
Stefan König, Gründer des Vereins Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V., lenkte den Blick auf die strukturellen Herausforderungen. Betroffene verfügten nach einer Verurteilung meist über keine finanziellen Mittel mehr, und die Anforderungen an eine Wiederaufnahme seien hoch. Ohne Studierende, ehrenamtliche Unterstützung und externe Expertise seien viele Prüfungaen kaum möglich. König plädierte deshalb für deutlich mehr Ressourcen und Unterstützung für Betroffene.
Rechtsfrieden und Wiederaufnahme im Spannungsfeld?
Tobias Kulhanek ordnete Wiederaufnahmeverfahren in das Spannungsfeld des Rechtsfriedens ein und unterschied drei Dimensionen:
Frieden durch Recht:
Der Gedanke, dass ein Verfahren irgendwann abgeschlossen sein muss. Dieser Aspekt wirkt am stärksten gegen eine erneute Öffnung von Verfahren: Irgendwann müsse „auch einmal gut sein“.
Frieden im Recht:
Die befriedende Wirkung eines materiell richtigen Urteils für Verurteilte und Geschädigte. Ein späteres Wiederaufrollen könne diesen Zustand erneut infrage stellen.
Zufriedenheit der Bevölkerung:
Das Vertrauen der Gesellschaft in ein gerechtes Rechtssystem setzt voraus, dass richtige gerichtliche Entscheidungen grundsätzlich Bestand haben.
Kulhanek betonte jedoch, dass nur der erste Aspekt unmittelbar gegen ein Wiederaufnahmeverfahren spreche. Die beiden anderen kämen nicht in Konflikt mit der Notwendigkeit, Fehlurteile zu korrigieren, wenn belastbare Gründe vorliegen.
Fehlbarkeit anerkennen – eine Herausforderung für die Justiz
Einen zentralen Akzent setzte Simon Pschorr, als er über den Umgang der Justiz mit Zweifeln sprach. Zweifel gehörten zum juristischen Arbeiten, würden aber im Alltag häufig verdrängt. Viele hätten Schwierigkeiten, die eigene Fehlbarkeit oder die Grenzen des Erkenntnisprozesses anzuerkennen. Genau dies sei jedoch Voraussetzung für jede ernsthafte Überprüfung möglicher Fehlurteile.
Wiederaufnahmeverfahren verlangten seiner Ansicht nach den Mut, Unsicherheit auszuhalten und frühere Einschätzungen neu zu prüfen. Für Pschorr ist dies ein Zeichen rechtsstaatlicher Stärke: Nur wer Zweifel zulässt, kann Fehlurteilen auf die Spur kommen.
Zudem erinnerte er an die besondere Rolle der Staatsanwaltschaft. Sie verfüge über Ermittlungsbefugnisse, die Verteidigungen aus finanziellen Gründen oft nicht haben. Deshalb solle sie aktiv prüfen, ob Zweifel an einer Entscheidung begründet sind. Wiederaufnahmeverfahren seien zwar ressourcenintensiv und oft aufwendiger als das ursprüngliche Verfahren, doch dieser Aufwand sei unvermeidlich, wenn ein Rechtsstaat Fehler ernst nimmt.
Sein Schlussgedanke brachte die Haltung vieler im Publikum auf den Punkt:
„Lieber ein Schuldiger frei als ein Unschuldiger in Haft.“
Reformideen
In der Diskussion wurden anschließend konkrete Vorschläge für gesetzliche Änderungen erörtert:
- Strafzumessungsfehler als Wiederaufnahmegrund anerkennen
- Möglichkeit, die verminderte Schuldfähigkeit im Wiederaufnahmeverfahren erneut prüfen zu lassen
- Klare gesetzliche Definition, wann ein Novum als „neu“ gilt wann es "geeignet" ist
Stefan König erinnerte daran, dass es bereits früher einen Gesetzesvorschlag gab, der eine gesetzliche Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft in bestimmten Konstellationen vorsah. Da die Staatsanwaltschaft über Informationszugänge und Befugnisse verfügt, die der Verteidigung nach der Verurteilung nicht offenstehen, sei ihre aktive Mitwirkung für eine objektive Neubewertung eines Falls unverzichtbar.
Fünf Ideen für eine gerechtere Wiederaufnahme
In einer abschließenden Runde nannten die Diskutierenden je eine Reform, die sie für besonders dringlich halten:
- eine unabhängige Wiederaufnahmekommission (Kulhanek)
- eine spezialisierte, bundesweite Einheit der Staatsanwaltschaft (Pschorr)
- verbindliche Standards zur Aufbewahrung von Asservaten (Kaspar)
- ein Mentalitätswandel in der Justiz (Rick)
- mehr Ressourcen für Betroffene und ihre Verteidigung (König)
Dass Reformbedarf besteht, war an diesem Abend unstrittig.
Ein Publikum, das weiterfragt
Besonders lebendig wurde die Veranstaltung in der Fragerunde, in der vor allem viele Studierende kritisch und engagiert nachhakten. Ihr Interesse zeigte, wie intensiv sich eine neue Generation juristischer Fachkräfte mit Fehlerkultur, Rechtsstaatlichkeit und den Grenzen der Strafjustiz auseinandersetzt.
Für alle, die den Abend verpasst haben, ist die Aufzeichnung hier abrufbar:
👉 YouTube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=NpigHsKGI8U